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„Das ist unsere Heimat“

Kathrin HedtkeKhaled und Shayma Hussein

Sie sind vor dem Krieg in Syrien geflohen und haben im Rheingau ein neues Zuhau­se gefunden: Shayma und Khaled Hussein leben mit ihrem Sohn in Eltville. 

Auf dem Weg zum Rheinufer holt Kha­led Hussein noch kurz beim Bäcker einen Latte Macchiato zum Mitnehmen. Als er den Laden betritt, lächelt der junge Mann hinter der Theke übers ganze Gesicht: „Hey, wie geht es dir?“ Khaled Hussein strahlt, dreht sich zu einer Frau um. „Guck mal, Shayma, er macht hier jetzt eine Ausbildung.“ Der 31-Jährige arbeitet als pädagogische Fach­kraft in einer Wohngruppe in Eltville und betreut unbegleitete minderjährige Flücht­linge. Der Junge in der Bäckerei ist einer von ihnen, er kam alleine aus Afghanistan nach Deutschland. „Ich habe das gleiche Schicksal“, sagt Khaled Hussein. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, seine Eltern zu verlassen, Heimweh zu haben. Ich kann den Kindern meine Ge­schichte erzählen – und ihnen Mut machen.“

Seine Frau grinst: „Khaled kennt über­all Leute, er kann kaum über die Straße laufen.“ Kein Wunder, beide sind in Eltville fest verankert: Sie arbeitet als Erzieherin in einer Kita, er studiert – neben seinem Job im Kinderdorf – Soziale Arbeit in Wiesbaden und ist überall dabei, geht zum Lauftreff, ist Wahlhelfer, berät die Stadt in Integrations­fragen und beide sind ehrenamtlich aktiv. Ihr Sohn Daniel, 7, geht in die erste Klasse, spielt Fußball im Verein. „Ob die Eltern seiner Freunde oder Nachbarn, alle haben uns so geholfen“, betont Shayma Hussein. Beim Deutschlernen und beim Ankommen. „Die Arme waren weit offen für uns.“

Ersatzoma gefunden

An der Uferpromenade setzen sie sich mit ihrem Kaffee im Schatten unter den Plata­nen auf eine Bank, mit Blick auf den Rhein, Containerschiffe ziehen vorbei. Ihr Sohn ist bei einem Freund zu einer Geburtstags­feier eingeladen. „Sonst hätten wir ihn auch jederzeit zur Oma im Nachbarort brin­gen können“, meint Shayma Hussein. Die Großeltern aus Syrien sind auch hier? Die 32-Jährige lacht, nein, „Frau Berg ist unsere Ersatzfamilie.“

Shayma und Khaled Hussein kommen beide aus Hasaka, einer Stadt im Nordosten Syriens, an der Grenze zur Türkei und zum Irak. Sie waren Nachbarn, verliebten sich kurz vor dem Abitur ineinander. Nach der Schule begann Khaled, Jura zu studieren, Shayma Soziale Arbeit. Doch es war Krieg, überall gründeten sich Milizen. „Wir hatten Angst“, sagt Khaled Hussein. Einmal kriti­sierte er, dass junge Männer für Assad in den Tod geschickt werden. Der Vater warnte ihn, besser nicht laut seine Meinung zu sagen. „Du bringt die ganze Familie in Gefahr, sagte er.“ Des­halb beschloss Khaled Hussein, das Land zu verlassen, so schwer es ihm fiel. Aber er wollte eine Familie gründen – und endlich in Sicherheit leben. Ein Onkel wohnte in Deutschland. Deshalb machte auch er sich auf den Weg dorthin, vorher heiratete das Paar.

Kathrin HedtkeAn das An- und Willkommen in Deutschland erinnert sich Khaled Hussein gern.

Flucht übers Mittelmeer

Zusammen mit seinem Neffen, 13, zog Kha­led Hussein im Alter von 21 Jahren los, von der Türkei in einem Boot nach Griechenland, von dort weiter die Balkanroute über Maze­donien, Serbien bis nach Ungarn. Das Kind hielt er dabei stets so fest an der Hand, dass der Junge sagte: „Onkel, du zerquetscht mir die Hand.“ Sein Handy ließ er meistens aus, meldete sich immer nur ganz kurz bei seiner Frau: Geht mir gut. Auch sagte er ihr nicht, dass die Reise übers Meer ging. „Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen macht“, sagt Kha­led Hussein.

Kurz vor dem Ziel machte sich ein Schleuser mit dem Geld davon und setz­te die Gruppe in der Pampa auf die Straße, also liefen sie zu Fuß weiter, ein kleines Kind trugen die Männer abwechselnd auf den Schultern, jeweils nach einer Stunde tausch­ten sie. Von Budapest ging es im Sommer 2015 direkt mit dem Zug weiter bis nach Wien – und von dort nach München. „Das Willkommen werde ich nie vergessen“, be­richtet Khaled Hussein und lächelt glücklich. „Die Menschen begrüßten uns so herzlich. Das war das tollste Gefühl überhaupt.“

„Ohne Frau Berg hätte ich es nie geschafft“

In Gießen lebte er zwei Monate in einem Zelt. „Dort war viel Stress“, sagt er. „Alle waren in Angst und Sorge.“ Niemand wusste, wie es weitergeht. Was sie die ganze Zeit ge­macht haben? „Nichts. Wir haben gewartet.“ Khaled Hussein und sein Neffe bekamen schließlich ein Zimmer in einer Unterkunft in Kiedrich zugewiesen, einem Dorf im Rhein­gau. Was ihm am meisten geholfen hat? „Frau Berg.“ Als jemand ohnmächtig wurde, lernte er sie durch Zufall auf der Straße kennen. Khaled Hussein fasst sich ans Herz, um Worte dafür zu finden, was diese Frau für ihn bedeutet. „Ohne Frau Berg hätte ich das alles nie geschafft.“

Kathrin HedtkeShayma Hussein ist begeistert von ihrer Arbeit in der Krippe.

Vor allem am An­fang, als er schrecklich besorgt war, ob er seine Frau zu sich holen kann. Frau Berg half ihm mit dem Papierkram, begleitete ihn auf Ämter – und beruhigte ihn immer wieder: Deine Frau kommt. Und tatsächlich konnte sich Shayma Hussein nach ein paar Monaten ins Flugzeug setzen und zu ihrem Mann fliegen. Frau Berg half auch dabei, dass Khaled Hussein die Vormundschaft für seinen Neffen bekam – und besorg­te den dreien eine Wohnung. „Übrigens nicht nur uns, Khaled“, wirft Shayma Hussein ein. „Sie hat bestimmt 30 Familien geholfen.“ – „Und für alle eine Wohnung ge­funden“, fügt ihr Mann lachend hinzu.

Großes Glück war für ihn, dass sein Asyl­verfahren so schnell abgeschlossen war, nach vier Monaten durfte er die Sprache lernen und eine Arbeit suchen. Frau Berg vermittelte eine ehrenamtliche Lehrerin, die mit ihm Deutsch übte. Über ein paar Ecken bekam er das Angebot, eine Ausbildung zum Raumausstatter zu machen. Shayma Hussein fand zunächst keinen Platz im Sprachkurs. „Alles war voll.“ Dann wurde sie schwanger. Als ihr Sohn in die Kita kam, meldete sie sich zum Deutschkurs in der Volkshochschule an.

Außerdem habe ihr die Philipp-Kraft-Stiftung sehr geholfen: Die kleine gemeinnützige Stif­tung mit Sitz in Eltville setzt sich für Demo­kratie, Integration und Teilhabe ein. Durch das Projekt „Vier Freunde“ fand Shayma Hussein leicht Kontakt zu anderen Menschen, nähte drei Tage pro Woche ehrenamtlich aus alten Stoffresten schöne Taschen und Topflappen. Als ihr Deutsch besser wurde, arbeitete sie in einem Seniorenheim. Bis die Leiterin der Kita ihres Sohnes sie fragte, ob sie nicht bei ihnen in der Krippe anfangen möchte. Shayma Hussein strahlt: „Das macht mir so viel Spaß.“ Leider ist ihr Deutsch schriftlich noch nicht gut genug, um eine Ausbildung machen zu können. „Aber das schaffe ich noch.“ Khaled Hussein konnte sich sein Abiturzeugnis aus Syrien anerkennen lassen und ein Studium beginnen.

Seit einem Jahr haben sie die deutsche Staatsangehörigkeit. „Das gibt uns viel Si­cherheit“, sagt Khaled Hussein. Er spürt, wie sich die politische Stimmung im Land verän­dert. Das macht ihnen Angst. Auch deshalb sind sie heilfroh über ihren deutschen Pass. Erst damit trauten sie sich überhaupt, das Land zu verlassen und ihre Familie in Syrien zu besuchen. Doch sie waren auch froh, als sie wieder in Eltville zu Hause waren. Khaled Hussein blinzelt in die Sonne und blickt auf den Rhein: „Das ist unsere Heimat.“ Manch­mal, sagt er, kann er es selbst kaum glauben: „Wir leben an so einem schönen Ort, mit so tollen Menschen.“

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