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… und was daraus geworden ist

epd-bild/Christian DitschMenschen verschiedener Nationen spielen Fußball auf einer grünen Wiese.

Menschen sind gekommen. Ohne dass wir sie gerufen hätten. Menschen sind gekom­men, weil sie vor Bomben und Kugeln, vor Terror und politischer Verfolgung, vor Folter und Misshandlung fliehen mussten. Sie flohen aus den Kriegs- und Krisengebieten in Syrien, Afghanistan, dem Irak, Eritrea oder Somalia. Menschen sind gekommen mit der vagen und auf ihren Fluchtwegen oft hart geprüften Hoffnung, hier etwas Besseres zu finden.

Menschen sind gekommen, weil andere EU-Staaten geltendes Recht gebro­chen und ihre Grenzen rechtswidrig ge­schlossen hatten. Menschen sind gekommen in der Überzeugung, dass Deutschland ein demokratischer Rechtsstaat ist, in dem die Menschenrechte und das EU-Recht geachtet werden.

Menschen sind gekommen. Und Menschen haben sie aufgenommen. Die lebendige, Humanität, Empathie und die Idee der Men­schenrechte verwirklichende Zivilgesellschaft hat aus dem „Sommer der Flucht“ 2015 zu­gleich einen „Sommer der Solidarität“ wer­den lassen. Schon das allein wäre großartig genug!

Und dann wurde aus diesem „Sommer der Solidarität“ – das zeigt nicht zuletzt diese Broschüre – in vielerlei Hinsichten auch noch eine Erfolgsgeschichte. Zehn Jahre danach fällt die Bilanz eindeutig aus: Es ist viel mehr gelungen als misslungen.

Deutschland 2015: „Schule der Demokratie“

Hunderttausende Menschen, die damals vor Krieg, Verfolgung oder Perspektivlosigkeit flohen, sind heute Teil dieser Gesellschaft. Sie arbeiten in Betrieben, leisten in Kranken­häusern und Pflegeheimen unverzichtbare Dienste, haben Ausbildungen abgeschlossen, Unternehmen gegründet oder ein Studium absolviert. Sie sind Kolleg*innen, Nach­bar*innen, Freund*innen oder Mitschüler*in­nen geworden.

Natürlich verlief nicht alles problemlos. Integration bedeutet immer auch Reibung, Irritation, Missverständnisse, Konflikte. Im Rückblick aber zeigt sich: Die Heraus­forderungen haben die Gesellschaft nicht geschwächt, sondern stärker und flexibler gemacht. Schulen und Kitas, Sportvereine und Kirchengemeinden, Nachbarschaften in Stadt und Land haben gelernt, neue Vielfalt zu leben. Kinder, die 2015 als „Flüchtlings­kinder“ eingeschult wurden, machen heute Abitur oder beginnen eine Ausbildung. Sie gehören selbstverständlich dazu.

Neun Jahre nach ihrem Zuzug lag die Beschäftigungs­quote der 2015 nach Deutsch­land geflüchteten Personen bei 64 Prozent und damit fast auf dem Niveau der Gesamtbevölkerung (70 Prozent). Die Beschäftigungs­quote allein der männlichen Geflüchteten des Jahres 2015 lag mit 76 Prozent sogar um vier Prozentpunkte über der der männlichen Gesamtbevölkerung. Und Hessen und Rheinland-Pfalz schneiden bei der Arbeitsmarkt­integration von Geflüchteten im Vergleich der Länder überdurch­schnittlich gut ab!

90 Prozent aller Geflüchteten des Jahres 2015 mit einem Job waren im Jahr 2024 sozialversicherungs­pflichtig beschäftigt und haben deshalb Beiträge zur Kranken-, Renten und Arbeitslosenversiche­rung gezahlt. In der Gesamtbe­völkerung war dieser Wert mit 92 Prozent nahezu identisch.

Entscheidend für diese Entwicklung war der enorme Einsatz von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfer*innen. Ohne sie wäre vieles nicht möglich gewesen. Millionen Stunden ehrenamtlicher Arbeit, getragen von Menschen aller Generationen und Milieus, haben eine Atmosphäre der Solidarität ge­schaffen. Hauptamtliche in Kirchen, Wohl­fahrtsverbänden, Kommunen und Initiativen haben Strukturen aufgebaut, Beratung organisiert, Sprachkurse vermittelt und Be­gleitung gesichert. Dieses Engagement war nicht nur humanitäre Hilfe – es war zugleich Ausdruck einer lebendigen Demokratie. Es hat gezeigt, dass Bürger*innen Verantwor­tung übernehmen, wenn es darauf an­kommt. 2015 war nicht nur ein „Sommer der Solidarität“, sondern auch eine „Schule der Demokratie“.

Deutschland 2015: Blaupause für Krisenbewältigung und Zukunftsfähigkeit

Die Erfahrungen sind mehr als eine Episode, die heute nostalgisch zu erinnern wäre. Sie sind eine Blaupause dafür, wie unsere Ge­sellschaft Krisen bewältigen kann. Wir haben gelernt: Große Aufgaben können bewältigt werden, wenn viele gemeinsam anpacken. Vielfalt ist keine Bedrohung, sondern eine Stärke. Menschenwürde und Menschenrechte sind keine abstrakten Ideen, sondern gelebte Praxis – sie entfalten sich dort, wo konkrete Menschen sich umeinander kümmern und füreinander einstehen. Und dort, wo alle ge­meint sind und zugehören, immer alle!

 

Wer nach Deutschland flieht, darf nicht sofort arbeiten. So dürfen Asyl­bewerber*innen grundsätzlich erst nach drei Monaten eine Arbeitser­laubnis beantragen. Sofern sie län­gerfristig in der Erstaufnahmeeinrich­tung eines Landes leben müssen, was bei fast allen Schutzsuchenden der Fall ist, gilt für sie sogar ein sechs­monatiges Arbeitsverbot. Und auch danach erschweren ihnen Wohnsitzauflagen die Arbeitsplatzsuche und Arbeitsauf­nahme, weil die Aufnahmeeinrichtun­gen oft weit abgelegen und schlecht angebunden sind. Gar nicht arbeiten dürfen Schutzsuchende, wenn sie aus einem vermeintlich „sicheren Herkunftsland“ kommen oder ihr Asylantrag wegen der Zuständigkeit eines anderen europäischen Landes abgelehnt wurde.

Übrigens haben Asylsuchende und geduldete Personen – entgegen anderslautenden Behauptungen – in den ersten drei Jahren nach ihrer Ankunft nur Anspruch auf eine eingeschränkte medizinische Ver­sorgung. In der Praxis übernehmen die Sozialbehörden nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzen die Behandlungskosten von Ärzten oder Krankenhäusern.

Diese Lehren sind aktueller denn je. Wir stehen heute vor multiplen Krisen: Die Klimakatastrophe, geopolitische Konflikte, zunehmende wirtschaftliche und soziale Un­gleichheit und eine erschreckende Renais­sance von Autoritarismus und Faschismus zerren an dieser Gesellschaft. Und fordern alle heraus. Hinzu kommt die demografische Transformation. Die Erfahrungen seit 2015 sind darum hilfreich und richtungsweisend. Sie machen deutlich, wie Gemeinwesen solche Krisen bewältigen können – durch Solidarität, Mitmenschlichkeit und die Ach­tung der Menschenwürde.

Deutschland 2025: Aus Kleinmut den Faden verloren

Umso ernüchternder ist das, was wir gleich­zeitig beobachten: Statt an die Erfahrun­gen von 2015 anzuknüpfen, dominiert eine Politik der Abschottung, Abschreckung und Entrechtung. Eine Politik, die Menschenrech­te gefährdet und die Unantastbarkeit der Würde infrage stellt.

Die Angst davor, dass Menschen ihre be­rechtigte Suche nach einem Leben in Si­cherheit und Würde auch weiterhin mit der Hoffnung auf Deutschland verbinden und die Angst vor Rassist*innen und Rechts­extremist*innen innerhalb und außerhalb der Parlamente bestimmte große Teile der Gesetzgebung: Immer neue rechtliche Hürden werden aufeinandergetürmt, um Schutzsuchenden den Weg nach Europa, Deutschland, Hessen und Rheinland-Pfalz und in die Kommunen unmöglich zu machen: Haftlager an den EU-Außengrenzen, Zurückweisungen an den Binnengrenzen, monate- oder jahrelanger Verbleib in sogenannten „Erstaufnahmeein­richtungen“ der Länder, die in Wahrheit „Orte der Isolation“ für alle und „Endstation“ für viele sind. Die Zugänge zu Rechtsmitteln und unabhängiger Beratung werden erschwert, Haftgründe ausgeweitet, Abschiebungen forciert und brutalisiert. Die finanziellen Ressourcen für eine funktionierende Auf­nahmegesellschaft werden zurückgefahren und zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete wird behindert, zermürbt, ausge­bremst, diskreditiert oder gar kriminalisiert. Diese Maßnahmen und die zunehmend ver­rohte „Asyldebatte“ zeigen auch bei den­jenigen Wirkung, die seit 2015 angekommen sind: Immer weniger fühlen sich in Deutsch­land willkommen und angenommen.

Und immer mehr gerät in Vergessenheit, dass das Asylrecht in Deutschland eine un­mittelbare Konsequenz aus der NS-Zeit war – eine bewusste Antwort auf Entrechtung, Verfolgung und das Fehlen sicherer Zu­fluchtsorte. Als Lehre aus dieser Erfahrung wurde das individuelle Grundrecht auf Asyl 1949 ohne Einschränkung ins Grundgesetz aufgenommen, als unmissverständliches Versprechen: Nie wieder sollten Schutzsu­chende abgewiesen werden. Dieses Ver­sprechen umfasst mehr als das bloße Recht, Grenzen zu überschreiten – es schließt auch das Recht auf Ankommen ein, auf Aufnah­me, Schutz und Teilhabe. Heute wird dieses Recht immer öfter infrage gestellt. Unter dem Vorwand, man müsse Rechtsextremen den Wind aus den Segeln nehmen, wird es ausgehöhlt. Doch die Rechten erstarken trotzdem – und die Gesellschaft bezahlt doppelt: mit dem Verlust eines zentralen Menschenrechts und mit der Preisgabe ihrer historischen Verantwortung.

Deutschland 2025: Nur bedingt zukunftsfähig

Die derzeitige Politik der Abschottung, Ab­schreckung und Entrechtung wirft aber nicht „nur“ die Erfahrungen des „Sommers der Solidarität“ über Bord. Und sie ist nicht „nur“ geschichts- und menschenrechtsverges­sen. Sie bedroht auch die Zukunft unseres Landes, das sich durch die demografische Transformation vor immense Herausforde­rungen gestellt sieht: Die Gesellschaft altert und Arbeitskräfte fehlen.

Wer also wird künftig tun, was jetzt noch diejenigen tun, die bald aus dem Arbeits­leben ausscheiden? Wer wird planen, bauen, organisieren, servieren oder unterrichten, wenn sie es nicht mehr tun? Wer wird die Bedarfe von immer mehr und immer älteren Menschen decken: Wer pflegt? Wer kauft ein? Wer liefert aus? Wer putzt oder küm­mert sich um den Garten? Wer garantiert die medizinische Versorgung vor allem im ländlichen Raum? Wer sichert Mobilität?  Wer leistet aufsuchende soziale Arbeit? Wer offeriert Ansprache und Zuwendung? Und zuletzt: Wer zahlt künftig in die Rentenkasse ein, wenn die bisherigen Beitragszahler*innen altersbedingt zu Zah­lungsempfänger*innen werden?

In den letzten Jahren sind die Einbürgerungs­zahlen in Deutschland kontinuierlich gestiegen. Der An­stieg geht vor allem zurück auf die Geflüchteten, die 2015/2016 eingereist sind. So erhielten 2024 über 290.000 Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit, vor allem aus Syrien, gefolgt von Menschen aus Türkei und aus dem Irak.
Damit hat sich die Zahl im Vergleich zu 2013 nahezu verdreifacht. Männer (53 Prozent) und Frauen (47 Prozent) hielten sich dabei fast die Waage. Zum Zeitpunkt ihrer Einbürge­rung waren die neuen Staatsbür­ger*innen etwa 30 Jahre alt.

Wer immer sich ernsthaft und wissen­schaftlich mit solchen Fragen beschäftigt, kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Ganze Bereiche des Gesundheitswesens, der Pflege, des Handwerks, des Handels, der Gastronomie und der Industrie, mehr noch, unsere Systeme der sozialen Sicherheit, sind ohne Einwanderung nicht zukunftsfähig. Aktuelle Untersuchungen unter anderem der Bertelsmann-Stiftung und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gehen davon aus, dass es in den nächsten Jahr­zehnten einer Nettozuwanderung zwischen 300.000 und 400.000 Personen im er­werbsfähigen Alter pro Jahr bedarf, um das Erwerbspersonenpotential stabil zu halten, dem Fach- und Arbeitskräftemangel zu be­gegnen und die Systeme sozialer Sicherheit aufrecht zu erhalten.

epd-bild/Uwe Lewandowski

Deutschland 2025: schnell migrationstüchtig werden!

Ohne die Aufnahme von Schutzsuchenden wäre Deutschland von dieser Zielmarke mei­lenweit entfernt. Mehr noch: Ohne die Auf­nahme von Schutzsuchenden würden aktuell und aller Voraussicht nach auch in Zukunft viel mehr Menschen aus Deutschland ins Ausland ziehen, als umgekehrt. Deutschland ohne geflüchtete Menschen wäre kein Einwanderungsland, sondern ein Abwanderungsland. Und Deutschland ist nicht das einzige Land, das aufgrund der demografischen Transformation dringend auf Einwanderung angewiesen ist. Mit seinen infrastrukturellen Defiziten, einer Sprache, die weit kompli­zierter ist als Englisch, und weiteren „Stand­ortnachteilen“ konkurriert es in Europa, Nordamerika und Asien mit einer Reihe von wirtschaftlich starken und attraktiven Staa­ten. Wir wären deshalb gut beraten, einen unserer wenigen Standortvorteile nicht aus der Hand zu geben: Nämlich das Vertrauen darauf, in ein Land zu kommen, in dem Men­schenrechte und Rechtstaatlichkeit garan­tiert sind und bleiben.

Weil ohne Geflüchtete viel zu wenige Men­schen nach Deutschland kommen würden und weil die Integration von Geflüchteten gelingt, kann das Resümee zehn Jahre nach dem „Sommer der Solidarität“ nur lauten: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Flüchtlinge, nicht weniger, sondern mehr Willkommenskultur und nicht weniger, son­dern mehr Solidarität.

Was mit gutem Willen möglich ist, zeigte sich nach dem Angriff von Russland auf die Ukraine. Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 flohen rund 1,2 Millionen Menschen aus der Ukrai­ne nach Deutschland, vor allem Frauen und Kinder. Gut zwei Drittel von ihnen kamen in den ersten drei Monaten nach dem Angriff.

Sie mussten kein Asyl­verfahren durchlaufen und nicht monatelang in Erstaufnahmeein­richtungen ausharren. Im Gegen­satz zu anderen Geflüchteten durften sie direkt in Privatwoh­nungen bei Freund*innen oder Familie unterkommen und arbei­ten gehen.
Ein Beispiel dafür, wie die Aufnahme von Menschen in Not gut gelingt.

Wir brauchen eine Politik, die nicht länger beklagt, dass die Infrastruktur dieses Lan­des für so viele Menschen nicht gemacht ist, sondern eine Politik, die die Infrastruk­tur dieses Landes – seine Behörden, seine Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, seinen Mobilitätsangebote und die Zahl von bezahlbaren Wohnungen – endlich für so viele und noch mehr Menschen ertüchtigt.

Denn Migration ist keine Bedrohung, sondern eine Chance. In einer alternden Ge­sellschaft, in einer Welt multipler Krisen ist eine Kultur der offenen Arme, Herzen und Köpfe die Voraussetzung für eine lebens­fähige Zukunft. Der „Sommer der Solidarität“, die „Schule der Demokratie“ des Jahres 2015 und das, was zehn Jahre danach daraus ge­worden ist, haben gezeigt: #offengeht. Eine offene Gesellschaft ist möglich. Sie ist nicht nur möglich, sie ist notwendig – als Grund­lage unserer Demokratie und Ausdruck unserer gemeinsamen Verantwortung für die Würde und die Rechte des Menschen.

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