Der „Sommer der Solidarität“

Herzlich willkommen: Der Sommer 2015 ist zu einem Symbol dafür geworden, Menschen in Not mit offenen Herzen und Armen zu empfangen. Auf der Flucht vor Krieg und Terror flohen vor zehn Jahren fast 900.000 Menschen nach Deutschland, ein Drittel davon Kinder. So viele wie nie zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Menschen kamen vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak.
Wie groß die Anteilnahme und Solidarität überall in Deutschland damals war, zeigt eindrücklich der Titel der BILD-Zeitung vom 1. September 2015. Die Zeitung, die mit ihrer Berichterstattung der letzten Jahre gehörigen Anteil an der zunehmenden Verrohung der Asyldebatte hat, listete damals unter der Schlagzeile „Refugees welcome!“ zwölf Gründe dafür auf, „warum wir uns auf euch freuen“.
„Wir schaffen das!“
Unvergessen sind die Bilder von den Hauptbahnhöfen in München, Frankfurt am Main, Mainz und vielen anderen Städten: Menschen strahlten, winkten, jubelten und klatschten, als die Geflüchteten aus den Zügen stiegen. Freiwillige Helfer*innen verteilten Wasser, Obst, Müsliriegel, Kleidung und Kuscheltiere. Überall packten die Menschen spontan mit an und halfen nach Kräften, damit die Geflüchteten gut in Deutschland ankommen!
Fast drei Viertel der Menschen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind und Asyl beantragt haben, waren jünger als 30 Jahre (71 Prozent). Davon war knapp die Hälfte sogar jünger als 18 Jahre. Insgesamt handelte es sich bei einem Drittel aller geflüchteten Personen des Jahres 2015 um Kinder oder Jugendliche.
„Wir schaffen das!“ Diese drei Worte der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 31. August 2015 gingen in die Geschichte ein und brachten die Stimmung auf den Punkt. Allerdings wurde ihr Statement zu Unrecht auf diese drei Worte verkürzt. Denn gleichzeitig benannte die Kanzlerin auch den Grund und die Voraussetzung für ihre Zuversicht: „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“

Wegmarken der Verzweiflung I: Wie es zu der Fluchtbewegung kam
Mit dem „Arabischen Frühling“ waren vier Jahre zuvor auch in Syrien massenhaft Menschen auf die Straße gegangen, in der Hoffnung auf mehr Freiheit und Demokratie. Doch das Regime schlug die Proteste nieder und das Land versank in einem blutigen Bürgerkrieg. 2015 kam es verstärkt zu Angriffen und Gewalt. Nach Angaben der Vereinten Nationen waren zu dem Zeitpunkt bereits 220.000 Menschen ums Leben gekommen.
Zwischen 2011 und 2015 mussten mehr als zwölf Millionen Syrer*innen fliehen. Rund die Hälfte fand Zuflucht in den Nachbarländern, vor allem in der Türkei (3,4 Millionen), im Libanon (1 Million) und in Jordanien (630.000). Meist kamen die Menschen in riesigen Lagern des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) unter. Sie wurden dort durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) medizinisch betreut und durch das World Food Progamme (WFP) mit Nahrungsmitteln versorgt. Finanziert wurden diese Hilfeleistungen durch freiwillige Beträge der internationalen Staatengemeinschaft.
Ab Ende 2014 wurde das Geld bei UNHCR, WHO und WFP zunehmend knapper und die Lage der Menschen in den Flüchtlingslagern dramatischer. Im März 2015 erklärte UNHCR, die Situation sei dabei, „untragbar zu werden“. Angesichts der wachsenden Zahl von syrischen Flüchtlingen sei eine deutliche Steigerung der finanziellen Hilfe durch die internationale Staatengemeinschaft dringend notwendig.
Die jedoch blieb – trotz gegenteiliger Absichtserklärungen – aus. Die Versorgung in den Lagern wurde immer schlechter. Menschen mussten hungern und frieren – und viele machten sich deshalb auf den Weg nach Europa. Über 80 Prozent der syrischen Flüchtlinge, die 2015 in der EU neu registriert wurden, kamen aus Flüchtlingsunterkünften in den Nachbarländern Syriens, viele von ihnen hatten dort zuvor über Monate und Jahre ausgeharrt.
Neben Syrer*innen waren es im Jahr 2015 vor allem Menschen aus Afghanistan und dem Irak, die nach Europa kamen und hier Schutz suchten. Auch für sie galt, dass ihre Herkunftsländer seit langem von Krieg und Gewalt geprägt waren, dass die meisten von ihnen zunächst innerhalb ihres Herkunftslandes vertrieben waren, dann in angrenzenden Staaten in Flüchtlingslagern Schutz gesucht und sich erst auf den gefährlichen Weg nach Europa gemacht hatten, als die Lebensumstände dort sich dramatisch verschlechterten.
Wegmarken der Verzweiflung II: Die Fluchtroute nach Europa – Todesgrab Mittelmeer
Weil Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten damals wie heute nicht auf legalem Weg nach Europa reisen können, nehmen sie lebensgefährliche Fluchtrouten in Kauf. So sank am 19. April 2015 bei der Fahrt übers Mittelmeer zwischen Tunesien und Italien ein Schiff. Nur 28 Menschen überlebten das Unglück, vermutlich mehr als 800 ertranken.
Weniger als fünf Monate später ging am 2. September 2015 das Bild von dem kleinen Alan Kurdi um die Welt: Der dreijährige Junge aus Syrien wurde tot an der türkischen Küste angeschwemmt. Die Familie hatte zuvor vergeblich versucht, ein Visum für Kanada zu erhalten, wo eine Tante lebte. Daraufhin beschlossen die Eltern, mit ihren beiden Kindern nach Europa zu fliehen. In einem Schlauchboot wollten sie von der türkischen Küste zur griechischen Insel Kos gelangen, doch das überfüllte Boot kenterte. Alan, sein Bruder Galip, fünf Jahre alt, und ihre Mutter Rihana starben, einzig der Vater überlebte.
Das Foto von dem toten Jungen am türkischen Strand löste weltweite Bestürzung aus. Die Bild-Zeitung setzte es mit schwarzem Trauerrand übergroß auf ihre Titelseite und schrieb: „Wer sind wir, was sind unsere Werte wirklich wert, wenn wir so etwas weiter geschehen lassen?“
Wegmarken der Verzweiflung III: Die Not in den griechischen Flüchtlingslagern
Über den lebensgefährlichen Seeweg aus der Türkei gelangten viele Menschen zunächst auf griechische Inseln. Schätzungen gehen davon aus, dass 2015 dort über eine halbe Million Schutzsuchende ankam. Die Dublin-Verordnung schreibt vor, dass Schutzsuchende sich in dem europäischen Land registrieren müssen, das sie zuerst betreten. Dieses Land ist in der Regel auch für die Bearbeitung eines Asylantrages zuständig.
Griechenland war mit dieser Aufgabe völlig überfordert, auch weil es infolge der Staats- und Finanzkrise 2008 finanziell schlecht ausgestattet war. Insbesondere auf den Ägäischen Inseln wie Lesbos saßen die Menschen lange in Flüchtlingslagern fest und warteten auf ihren Weitertransport aufs Festland. Das Lager Moria wurde zum Symbol für eine völlig überlastete Infrastruktur und menschenunwürdige Zustände.
Asylrecht: Der Schutz von Menschen, die in ihrer Heimat politisch verfolgt, gefoltert oder mit dem Tod bedroht werden, ist ein Grundrecht. Nachdem Deutschland während des Nationalsozialismus Millionen Menschen ins Elend gestürzt, brutal ermordet und aus ihrer Heimat vertrieben hat, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Grundgesetz großer Wert auf die Garantie der Menschenrechte gelegt. In Artikel 16 ist das individuell einklagbare Grundrecht auf Asyl verankert. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen von 1951, die Deutschland 1954 als eines der ersten Länder ratifiziert hat, garantiert den Schutz und die Rechte von Flüchtlingen.
Tausende Menschen hausten dort in Zelten, im Winter in eisiger Kälte, im Sommer in brütender Hitze, umzäunt von Stacheldraht, es fehlte an Nahrungsmitteln und Hygienemöglichkeiten. Hilfsorganisationen unterstützten die Menschen notdürftig mit Nahrung, Wasser und Decken. Aber die katastrophale Lage in den Flüchtlingslagern zwang viele Menschen erneut zur Weiterflucht.
Wegmarken der Verzweiflung IV: Der Leidensweg der Balkanroute
Auch auf der sognannten Balkanroute – dem Landweg über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich – waren die humanitären Zustände furchtbar. Bei Regen, Schnee, Eis und Kälte waren die Menschen über hunderte oder gar tausende Kilometer zu Fuß unterwegs. Sie campierten in alten Fabrikgebäuden oder Ruinen, lebten von der Hand in den Mund. Viele hungerten und froren tagelang und überlebten nur, weil sich Menschen aus der lokalen Bevölkerung ihrer erbarmten und Hilfe leisteten. Andere machten andere Erfahrungen: Sie wurden unterwegs ausgenutzt, ausgeraubt oder gar missbraucht.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ließ einen Grenzzaun zu Serbien errichten, um den Schutzsuchenden den Weg in die Europäische Union abzuschneiden. An der Grenze ließ er Transitzonen einrichten, in denen Schutzsuchende über Wochen oder sogar Monate inhaftiert wurden. Andere versuchten verzweifelt, den ungarischen Grenzzaun zu überwinden, und wurden von Grenzbeamt*innen mit Schlagstöcken, Tränengas oder Wasserwerfern nach Serbien zurückgeschlagen.
Deutschland und Österreich: Entscheidung für die Menschlichkeit (auf Zeit)
Ende August reagierte die Bundesrepublik auf die unhaltbaren Zustände an den Außengrenzen und in den Grenzstaaten der Europäischen Union. Flüchtlinge aus Syrien sollten bei der Einreise nach Deutschland auch dann nicht mehr abgewiesen werden, wenn eigentlich ein anderes europäisches Land für ihren Asylantrag zuständig wäre.
Nur wenige Tage später, am 27. August 2015, wurde auf einer Autobahn in Österreich ein Lastwagenmit 71 toten Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak an Bord entdeckt. Darunter waren auch viele Kinder. Bei dem Versuch, von der ungarischen Grenze aus nach Deutschland zu kommen, waren sie in dem Kühllaster qualvoll erstickt.
Die meisten Asylanträge der Menschen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Laufe des Jahres 2016 entschieden. Insgesamt traf die Behörde in diesem Zeitraum mehr als 600.000 Entscheidungen. In fast drei Vierteln (71,4 Prozent) der Anträge wurde eine Schutzberechtigung anerkannt.
Wiederum wenige Tages später, am 4. September 2015, machten sich rund 3.000 Flüchtlinge, die seit Wochen am Bahnhof von Budapest ausgeharrt hatten, zu Fuß auf den Weg nach Deutschland. Daraufhin erklärte der ungarische Ministerpräsident, die Flüchtlinge nicht mehr ordnungsgemäß registrieren zu können und mit Bussen zur österreichischen Grenze zu bringen, sofern Österreich und Deutschland sich zu ihrer Aufnahme bereit erklärten. Das taten sie. Die Menschen wurden mit Sonderzügen nach Wien und München gebracht. Und die Bild-Zeitung titelte: „Sie dürfen zu uns – Merkel beendet die Schande von Budapest.“
Die Monate danach
Während Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre Menschlichkeit von denen einen noch gefeiert und von den anderen schon harsch kritisiert wurde, arbeitete sie hinter den Kulissen bereits intensiv an einem Programm der künftigen - Originalton Angela Merkel - „Flüchtlingsverhinderung“. Nach langen Verhandlungen präsentierte sie im März 2016 den sogenannten „EU-Türkei-Deal“. Er sah vor, alle Flüchtlinge sofort wieder in die Türkei zurückzuschicken, die auf den griechischen Inseln ankommen. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU, für jeden zurückgeführten syrischen Geflüchteten einen anderen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufzunehmen und stellte ihr sechs Milliarden Euro sowie Visaerleichterungen in Aussicht. Faktisch bedeutete der Deal für zigtausende Geflüchtete jahrelange Entrechtung und Perspektivlosigkeit in griechischen Elendslagern.
Die Überfahrt über das Mittelmeer ist die tödlichste Fluchtroute der Welt. Über 32.000 Menschen sind laut der International Organisation for Migration (IOM) seit 2014 auf dem Seeweg nach Europa nachweislich ertrunken oder verschwunden; darunter viele Kinder. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Es ist zu befürchten, dass die tatsächlichen Todeszahlen weitaus höher sind.
Fast zeitgleich schlossen Österreich, Ungarn, Kroatien, Slowenien, Serbien und Nordmazedonien ihre Grenzen für Flüchtlinge und damit die sogenannte Balkanroute. Als Reaktion darauf nutzen Menschen auf der Flucht wieder verstärkt den Seeweg von Libyen nach Italien. Die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen oder bei der Überfahrt übers Mittelmeer verschollenen Flüchtlinge stieg in der Folge von circa 3.700 Flüchtlingen im Jahr 2015 auf 5.100 im Jahr 2016 an.
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